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18.1.2006

Bericht der VVN-BdA

Widerstand - ein Leben lang

Veranstaltung vom 17.1.2006 in Karlsruhe

Dem etwa 90-minütigen Vortrag der beiden Referenten folgten 30 TeilnehmerInnen mit gespannter Aufmerksamkeit.

Spektakuläre Befehlsverweigerung

Gleich zu Beginn wurde Karl Wagners spektakuläre Verweigerung eines SS-Befehls im Außenlager Allach des KZ Dachau nachgespielt - der Dialog des Lagerführers Jarolin, eines SS-Mörders, mit dem Lagerältesten Wagner, der sich weigerte, einen sowjetischen Mithäftling zu schlagen.

Heldentum? JA und NEIN resümierten die Vortragenden. JA was den persönlichen Mut betrifft, NEIN was das Kriegserfordernis Rüstungsproduktion betrifft. Jarolin hatte die neue SS-Linie ab 1943 nach verstärkter Heranziehung der Häftlinge zur Rüstungsproduktion ("Vernichtung durch Arbeit") nicht begriffen und mordete aus den eigenen niederen Beweggründen "systemwidrig" weiter.

Ausführlich wurde auch geschildert, dass die Befehlverweigerung auf einen Beschluss der illegalen internationalen Lagerleitung in Dachau zurückging. Deren Existenz wird offiziell bis heute bestritten, weil organisierter kommunistischer Widerstand nicht in das herrschende Geschichtskonzept passt. Details der beispielhaften Befehlsverweigerung, die später Nachahmer fand, können in Karls Broschüre "Ich schlage nicht" nachgelesen werden.

Sabotage des Baus der "Baracke X"

Das zweite Beispiel war die Sabotage des Baus der Gaskammer in Dachau ("Baracke X") im Jahre 1942, die ebenfalls auf einem Beschluss der illegalen Lagerleitung beruhte.

Karl konnte das bewirken, weil er sich als Lagerkapo Baukenntnisse angeeignet hatte und polnische Geistliche als "Maurerlehrlinge" eingesetzt wurden. Diese halfen bei der Sabotage unbefangen mit, weil sie keine Fachkenntnisse besaßen. Die Bauverzögerung von mehr als einem halben Jahr trug dazu bei, dass die Gaskammer nicht in Betrieb genommen werden konnte und damit vielen Häftlingen das Leben gerettet wurde.

Bei der Entscheidung über die Nichtinbetriebnahme spielten sicherlich auch die schlechten Erfahrungen eine Rolle, die die Nazis mit Protesten der Bevölkerung und der Kirche in Grafeneck (Vergasung von Euthanasieopfern) gemacht hatten und die in diesem Fall aus dem nahe gelegenen München befürchtet werden mussten.

Rettung des Häftlings Kowalski

Hilde Wagner hat mit dem Buch "Der Kapo der Kretiner" ein lebendiges Zeugnis über den Widerstandskampf ihres Lebensgefährten hinterlassen. In der gleichnamigen Schlüsselszene des Buchs beschreibt sie die kluge und mutige Rettungsaktion für den polnischen Häftling Kowalski äußerst anschaulich. Anstelle der Nacherzählung in der Veranstaltung wird hier der vollständige Text als Buchauszug dokumentiert (siehe unten).

Karl Wagner hat mit seinem beispielhaften Widerstand, der häufig genug an der äußersten Grenze des Menschenmöglichen operierte, hunderten von Häftlingen das Leben gerettet und vielen Mut gemacht.

Karl hat dafür mehrfach gefährliche Bestrafungen wie Strafkompanie, Stockhiebe, Bunker, Stehbunker etc. aushalten müssen und hatte das Glück zu überleben.

Widerstand - ein Leben lang

Da im Vortrag auf solche Fragen wie Häftlingsselbstverwaltung, Arten von KZ-Lagern, System der Bestrafungen, illegale Lagerleitung etc. eingegangen werden musste, um die Handlungen besser einordnen zu können, verblieb nicht genug Zeit, auf Karls Weg nach der Befreiung einzugehen. Der Kreis schloss sich mit einem Foto, das Karl und Hilde Wagner bei der Demonstration gegen die neofaschistische ANS/NA am 30. April 1983 zeigt, der Vorläufer-Organisation der jetzigen Karlsruher Neonazi-Szene.

Die Vortragenden wiesen darauf hin, dass solche Rückblicke in die Geschichte nicht nur der Traditionspflege dienen, sondern vor allem dazu anregen sollen, die Ursachen für Rechtsentwicklungen in der Entstehungsphase zu bekämpfen und Alternativen zu entwickeln.

Die Power-Point-Präsentation aus Bildern mit Original-Tondokumenten des Widerstandskämpfers Karl Wagner ließen einen unmittelbaren Eindruck entstehen, wie er sonst nur mit Video-Aufnahme erzielt werden kann, die leider nicht verfügbar sind.

Jürgen Ziegler und Achim Helmle von der Gewerkschaft ver.di wurde dafür gedankt, geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und eine umsichtige videotechnische Unterstützung gewährleistet zu haben.






Titelgeschichte aus dem gleichnamigen Buch
von Hilde Wagner
1/1991, Karlsruhe, Eigenverlag

"Der Kapo der Kretiner"

Häftlinge, die durch ständigen Hunger, durch Qualen und Schikanen der SS gesundheitlich völlig heruntergekommen waren, pflegte K. K. nach dem Jargon der SS "Kretiner" oder "Muselmänner" zu nennen. Auf diese "Kretiner" hatte er es abgesehen. Aus ihnen fischte er das Potential heraus, das er laut Befehl täglich der SS zu melden hatte.

Der Pole Kowalski war von der SS in die Kategorie der "Kretiner" hinunter gestoßen worden. Auf der Brust und auf dem Rücken seines Häftlingskittels, dort wo das Herz schlägt, war ein sogenannter "Fluchtpunkt" aufgenäht. Das bedeutete, daß er Freiwild war. Jeder beliebige SS-Mann durfte beim geringsten Anlaß auf ihn schießen.

Der Fluchtpunkt wies aus, daß Kowalski eines Fluchtversuchs verdächtig war. Kurz nach seiner Einlieferung ins Lager hatte er versucht zu fliehen, wurde aber von der SS und ihren Hunden wieder eingefangen. Mit solchen Gefangenen pflegte die SS besonders grausam umzugehen.

Für Kowalski hatten sie sich eine ganz besondere Gemeinheit ausgedacht: Morgens nach dem Appell wurde ihm ein zentnerschwerer Stein auf die Schultern gelegt, unter dessen Last er fast zusammenbrach. Vierzehn Stunden am Tag mußte Kowalski bei Hitze, Regen, Kälte oder Sturm mit dem schweren Stein auf dem Rücken durchs Lager laufen, im ständigen Blickfeld der patrouillierenden SS-Wachleute am Todesstreifen und im Blickfeld der Posten auf den Türmen: Vom Jourhaus zum Bunker, vom Bunker zum Wirtschaftsgebäude, über den Appellplatz, über die Lagerstraße bis zum Ende des Lagers. Kehrtwendung. Am Kanal entlang, wieder zum Jourhaus. Das Ganze wiederholen, einmal, zweimal, zehnmal, fünfzigmal, immer weiter, immer weiter. Der Stein drückte ihn fast in den Boden hinein, er rieb die Haut wund. Allmählich wurde der schmale, fleischlose Rücken zu einer blutigen Masse. Die Beine brachen auf, die Füße wollten ihn nicht mehr tragen. Er brach zusammen, raffte sich wieder auf, war hundemüde, sterbensmüde, aber er mußte laufen, laufen, laufen.

Die SSler trieben ihre Späße mit ihm. Sie bewarfen ihn mit kleinen, spitzen Steinen, sie traten ihm in die Kniekehlen, sie trieben ihn an: "Vorwärts, du Vogel, keine Müdigkeit vortäuschen, schneller, schneller, du dreckiger Polacke, du Muselmann, Kretiner"

Karl sah sich das eine Weile an. Dann ging er abends in Kowalskis Baracke. Als er die Stube betrat, hockte Kowalski, unbeachtet von seinen Kameraden, im hintersten Winkel, ein Häufchen Elend, mager, ausgemergelt, mit hoffnungslosen, verloschenen Augen. Karl deutete auf den Polen und fragte seine Stubenkameraden: "Was ist mit ihm los, warum kümmert ihr euch nicht um ihn?"

Die Häftlinge stotterten verlegen. Viele von ihnen konnten nur sehr schlecht Deutsch sprechen: "Kowalski nicht gut, Kowalski schlecht, er sich nicht waschen, Kowalski stinkt"

Karl beugte sich zu dem Polen hinunter. "Warum wäschst du dich nicht, Kowalski?" Der blieb teilnahmslos sitzen: "Ich nix Kraft."

Karl ging ins Revier, ließ sich von Michel Rauch Pflaster geben, dann ging er in seine Baracke, holte Seife, einen Eimer Wasser, nahm ein Handtuch und begab sich wieder in Kowalskis Stube. Er setzte Kowalski auf einen Stuhl, wusch ihn ab, betupfte den blutigen Rücken und verklebte ihn mit dem Pflaster. Dann ging er mit einem freundlichen "Gute Nacht" hinaus.

Die Häftlinge verfolgten mit großen, verwunderten Augen das Geschehen. Auf ihren Gesichtern stand Staunen. Weshalb der Lagerkapo ausgerechnet dem Kowalski half?

Karl wiederholte am nächsten und am übernächsten Tag dieselbe Prozedur. Nur brachte er diesmal außer Wasser und Seife eine Scheibe Brot mit Wurst und Margarine aus seiner eigenen Ration mit, um sie Kowalski in den Mund zu schieben. In Kowalskis Augen trat ein kindliches Leuchten, dann schluckte er das Brot hinunter, ließ sich willig waschen und verbinden.

Karl aber konnte nicht mehr schlafen. Der Gedanke, daß Kowalski vor die Hunde gehen sollte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Dann riß er sich zusammen und begab sich wieder einmal auf die verhaßte Kommandantur. Diesmal war Zill nicht da. Der Lagerführer H, Hofmann, hatte heute Dienst.

Nachdem das übliche Zeremoniell abgespult war und Hofmann ihn aufgefordert hatte, sein Anliegen vorzubringen, machte Karl dem Lagerführer II in der angeordneten, strammen Haltung einen Vorschlag: "Als Lagerkapo bin ich für die Sauberhaltung des Lagers verantwortlich." Hofmann schnitt ihm das Wort ab: "Das weiß ich selbst. Stiehl mir nicht meine Zeit und sag, was du willst." "Da läuft von morgens bis abends einer mit einem Fluchtpunkt und mit einem großen Stein auf dem Buckel im Lager herum. Das ist doch unproduktiv. Mir dagegen fehlen die notwendigen Arbeitskräfte, um das Lager sauber zu halten, weil die anderen Häftlinge für wichtigere Arbeiten gebraucht werden. Ich schlage vor, den Polen nicht so nutzlos herumlaufen zu lassen. Man könnte ihm einen Kübel in die Hand drücken und ihm den Befehl geben, das Lager sauber zu halten, das heißt Zigarettenkippen, Papierschnitzel und alles, was so herumliegt, aufzusammeln."

Hofmann lachte schallend und rieb sich vergnügt die Hände: "Das ist gar keine schlechte Idee, da könnte der Polacke zur Abwechslung mal Kniebeugen machen."

Es dauerte nicht lange, da bekam Kowalski tatsächlich einen Eimer in die Hand gedrückt. Er erhielt den Befehl, alles aufzusammeln und jeden Winkel im Lager peinlichst sauber zu halten, "wie vom Teller geleckt".

Kowalski wußte zunächst gar nicht, wie ihm geschah. Erst allmählich kam ihm zu Bewußtsein, daß der schwere, niederdrückende Stein vom ihm genommen war, daß er in Ecken und Winkel kriechen konnte, die außerhalb des Blickfeldes der Wachposten lagen, und daß er sich dort ausruhen konnte. Er fing an, wieder zu leben, er wusch sich wieder. Die Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit verschwanden aus seinen Augen.

Als Karl an dem Kippen sammelnden Kowalski vorbeiging, blickte der auf und strahlte ihn an: "Ich jetzt viele Freunde, ich jetzt nicht mehr allein!" "Das ist gut, Kowalski. Und jetzt sondere dich nicht mehr von deinen Kameraden ab. Haltet zusammen. Hilf ihnen, wenn sie dich brauchen, dann werden sie dir auch helfen." Kowalski versprach es.

K. K. hatte von dem sonderbaren Verhalten des Lagerkapos gehört. Er schüttelte verwundert den Kopf. Er erzählte Jarolin davon. Auch Jarolin schüttelte den Kopf. "Der Kapo der Kretiner", murmelte Jarolin und wollte sich über diesen von ihm erfundenen Titel halb totlachen. Drüben, auf der Kommandantur, erwähnte er seinen Kumpanen gegenüber, welchen Spitznamen er dem Lagerkapo gegeben hatte. Auch die Kumpane lachten.

K. K. überlegte hin und her. Weshalb Karl wohl ausgerechnet diesem Polen wieder auf die Beine geholfen haben mochte? Aber er konnte es drehen und wenden wie er wollte, er fand keinen triftigen Grund. Kowalski war weder ein Kommunist, noch gehörte er irgendeiner anderen Gruppe an. Kowalski war auch kein großes Kirchenlicht, er konnte dem Lagerkapo auf keine Weise nützlich sein.

Aber irgend etwas mußte doch dahinterstecken! K. K. begann, Kowalski aufmerksam zu beobachten und nicht mehr aus den Augen zu lassen. Dabei fand er zwar immer noch keine Begründung für Karls Verhalten, aber er wurde für seine Mühe durch etwas völlig anderes entschädigt:

K. K. erwischte Kowalski unerwartet. Er war eines Vormittags plötzlich wie aus dem Boden gestampft neben Kowalski aufgetaucht, er nahm dem Polen den Eimer aus der Hand, kippte ihn um und fand unter dem Unrat einen kleinen, festen, frischen Krautkopf.

An diesem Tag kochte die Küche Krautsuppe. Kein Zweifel, Kowalski hatte das Kraut in der Küche gestohlen. Mit flinken Beinen schleppte K. K. den schlotternden Kowalski eifrig auf die Kommandantur. Bald darauf tönte es durch den Lautsprecher: "Lagerkapo, ans Tor!"

Karl wurde zum Dienst habenden Blockführer gebracht, in dessen Büro sich K. K. und Kowalski befanden. Der Blockführer brüllte Karl an: "Was ist das für eine Sauerei? Du bist für deine Häftlinge verantwortlich und hast auf sie aufzupassen! Der Polacke hier hat in der Küche einen Krautkopf gestohlen. Darauf steht die Todesstrafe! Und dich laß ich auf den Bock schnallen wegen Begünstigung."

Der Blockführer wurde immer aufgeregter: "Dieses Polackenschwein gefährdet das ganze Lager. Der wollte den Krautkopf ungewaschen fressen, und das hätte leicht zu Cholera führen können."

Karl wußte instinktiv, daß Kowalski das Kraut tatsächlich gestohlen hatte, er hatte ihn aus der Küche kommen sehen. Auch sah man Kowalski sein schlechtes Gewissen an. Für Karl kam es jetzt darauf an, auf Biegen und Brechen zu verhindern, daß der Pole sein "Vergehen" zugab. Mit dem Fluchtpunkt auf der Brust hätte ihn das mit Sicherheit das Leben gekostet.

Karl reagierte blitzschnell: "Hat K. K. mit eigenen Augen gesehen, daß der Pole den Krautkopf tatsächlich gestohlen hat, und hat der Häftling das zugegeben? Oder hat er den Krautkopf vielleicht auf der Lagerstraße gefunden und aufgelesen, wie es sein Befehl war?"

"Was heißt hier zugegeben", brüllte der Blockführer, "der Kerl gibt gar nichts zu, der stellt sich dumm, der zuckt immer nur mit der Schulter, aber das nützt ihm nichts." "Der stellt sich nicht dumm, der kann kein Deutsch, der versteht nicht, was Sie von ihm wollen. Ich verlange einen Dolmetscher", forderte Karl mit Bestimmtheit. Gleichzeitig warf er K. K. einen vernichtenden Blick zu. K. K. duckte sich. Der Blockführer bemerkte K. K.'s Verlegenheit. Er fragte ihn wütend: "Hat der jetzt den Krautkopf in der Küche gestohlen oder nicht?" K. K. machte sich noch kleiner und schwieg. "Den polnischen Dolmetscher her", brüllte der Blockführer.

Zwei SS-Leute brachten den Kameraden Domagala. Karl kannte den polnischen Dolmetscher. Er war ein guter Kamerad. Karl und "Sos" hatten einmal auf der Lagerstraße mit ihm gesprochen. Damals hatte ihnen Domagala erzählt, wie grausam die Deutschen in Polen gewütet hatten.

Als Domagala in das Büro gebracht wurde, blickte Karl ihn hypnotisierend an: "Mach keinen Fehler", flehten seine Augen.

"Dieser Pole hat in der Küche einen Krautkopf gestohlen, sag ihm, daß er das zugeben soll", forderte der Blockführer von Domagala.

Karls Nerven waren zum Zerreißen angespannt. "Frag ihn, ob er das Kraut gestohlen oder ob er es auf dem Weg gefunden und aufgesammelt hat", warf er ein. Der Blockführer sprang vom Stuhl auf. Mit wutverzerrtem Gesicht brüllte er Karl an: "Ich hab dir nicht erlaubt, Fragen zu stellen, du Kommunistensau. Wenn du noch ein Wort sagst, fliegst du in den Bunker" Aber es war kein Wort mehr nötig, Domagala hatte verstanden.

Er sprach mit seinem polnischen Kameraden. Dann übersetzte er, daß der Gefangene den Krautkopf am Randstein bei der Küche gefunden und, wie es sein Befehl gewesen sei, zu den anderen aufgesammelten Sachen in den Kübel gelegt hätte.

Jetzt wurde der Blockführer rot vor Wut. Er schnauzte K. K. an: "Ich will jetzt klipp und klar wissen, ob du gesehen hast, daß der Polacke mit dem Krautkopf aus der Küche kam?" K. K. hatte es nicht gesehen. Domagala wiederholte: "Er war nicht in der Küche, er hat das Kraut gefunden."

Plötzlich ging es wie eine Erleuchtung über das Gesicht des Blockführers: "Was man gefunden hat, muß man laut Vorschrift sofort abliefern, sonst ist es ebenfalls Diebstahl. Der da hat das Kraut nicht abgeliefert, sondern in seinem Eimer versteckt.

Er wollte es fressen, und zwar ungewaschen, und damit hätte er das ganze Lager verseuchen können. Ob in der Küche gestohlen oder am Bordstein aufgelesen, das ist einerlei. Der kommt sowieso dran, der kommt nicht ungeschoren davon, das ist sicher", donnerte der Blockführer hysterisch.

Karl konnte es nicht mehr hören. So bestimmend und gleichzeitig beruhigend, wie es nur ging, sagte er: "Herr Blockführer, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben dürfte. Ich kann gut verstehen, daß der Häftling den Krautkopf nicht abgeliefert hat. Ich hätte das auch nicht getan, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Denn sehen Sie, die Häftlinge haben Hunger, Kohldampf. Aber wenn der Pole die Absicht gehabt hätte, den Krautkopf ungewaschen zu essen, dann hätte er das sofort getan, dann hätte er den Kohl doch nicht in seinen Eimer gelegt. Für mich ist das der Beweis, daß er das Kraut vor dem Verzehr waschen wollte, zudem es ja im Lager genug Wasser gibt. Lassen Sie doch den Dolmetscher nachfragen, ob es so war"

Der Blockführer war konsterniert. Er kehrte von seiner rasenden Wut auf den Boden der Sachlichkeit zurück. Aber anstatt sich an Domagala zu wenden, blickte er auf seine Armbanduhr. "Himmeldonnerwetter, ich muß zum Rapport", jammerte er, "ihr Schweinehunde seid schuld, daß ich beinahe eine wichtige Sitzung verpaßt hätte. Abtreten, der ganze Sauhaufen. Aber glaubt ja nicht, daß dies das Ende der Fahnenstange ist, denn ich schwöre euch, daß ich darauf zurückkommen werde."

Alle vier verließen die Kommandantur. Kowalski verzagt und immer noch am ganzen Körper zitternd, K. K. wie ein begossener Pudel, Karl und Domagala fast vergnügt.

Als Karl abends auf der Lagerstraße Fritz traf, wußte dieser bereits Bescheid: "Karl", warnte er, "manchmal pokerst du mir zu hoch. Du mußt vorsichtiger sein. So was kann auch mal schief gehen. Menschenskind, wir brauchen dich doch so dringend. Spiel also bitte nicht mit dem Feuer, überleg immer genau, was du tust."

Karl wußte selbst, daß er sich heute dicht an einem Abgrund bewegt hatte. "Du hast ja recht, Fritz, aber ich konnte einfach nicht anders handeln, und es ist ja gut gegangen."





Anmerkungen
von Hilde Wagner zur Verwendung von Initialen:

Ich nannte die Namen hervorragender, mutiger Kameraden, die Großes geleistet haben und die man unbedingt in einem Nachruf würdigen mußte. Natürlich gab es außer den von mir Genannten zahlreiche solcher hervorragender Persönlichkeiten in allen KZ-Lagern. Nicht allein Karl und die, mit denen er unmittelbar zu tun hatte, haben Vorbildliches geleistet in der Solidarität und Hilfe für ihre Kameraden, sondern viele andere auch.

Zum zweiten nannte ich die Namen von SS-Verbrechern und ihren Handlangern, deren verbrecherische Handlungen nach 1945 in Dokumenten, Büchern, Artikeln und Zeugenaussagen bei Prozessen offen gelegt wurden.

Bei den Namen, die ich lediglich mit Initialen gekennzeichnet habe, handelt es sich um zwei Kategorien von Häftlingen:

  1. um solche Kameraden, die bei Folterungen durch die SS Namen preisgaben, die später aber ihre Aussagen widerrufen haben. Karl hat diese Kameraden geschätzt und immer verteidigt. Er war der Meinung, daß es weitaus schwieriger war, eine einmal gemachte Aussage wieder zurückzunehmen, als von vorneherein keine Aussagen zu machen. Ich habe Initialen verwendet, weil es mir nicht zusteht, mit der Veröffentlichung der vollen Namen eventuell das Ansehen dieser Kameraden zu schmälern.
  2. um Häftlinge, die schlechte Handlungen im Interesse der SS begangen haben, wie es Karl im eigenen Kampf erlebt hat. Leider bin ich bei den mit Initialen Benannten nicht im Besitz von Beweismaterial oder Zeugenaussagen Dritter. Ich habe mich in meiner Darstellung der Handlungsweisen sowohl der SS als auch der Häftlinge streng an das gehalten, was Karl erlebte und wofür er bürgte.
© Antifaschistisches Aktionsbündnis Karlsruhe